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Schützengräben als Tintenlinien

Der Lehrer Udo Geiseler zeigt Schülern der elften Klasse die Grauen des Ersten Weltkrieges

Quelle: MAZ
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MAZ Brandenburger Kurier vom 14.06.2014

Es sind schöngeistige Plakate, die im Klassenzimmer des Jahn-Gymnasiums in Rathenow hängen. Über Shakespeare und „200 Jahre Undine“. Doch die Bilder, die Lehrer Udo Geiseler den 18 Schülern seines Geschichtslei-stungskurses an diesem Junimorgen zeigt, sind harte Kost. Sterbende und tote Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Skelettierte Schädel, von Erde fast komplett zugedeckte Gesichter von Leichen.

Die 16- bis 17-Jährigen sind still, aber nicht fassungslos. Sie haben alle freiwillig in den vergangenen Wochen bereits „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque gelesen. Durch dessen nüchterne Schilderungen über das massenweise Soldatensterben spielt sich ein Horrorfilm in die Vorstellungskraft des Lesers. „Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie Geiseler den Weltkrieg mit dem Zitat des Historikers George Kennan nennt, ist an diesem gewittrigen Tag Unterrichtsstoff.  „Gut, dass das Donnern draußen vom Gewitter stammt und nicht von Geschützen“, sagt Geiseler zu seinen Schülern. Und er erinnert an die Lehrer vor 100 Jahren, an ihre unrühmliche Rolle, ihre noch kaum erwachsenen Schüler zum Kriegsdienst animiert zu haben. „Ich schicke Dich in den Krieg, weil ich dazu zu alt bin. Es ist die Schuld der Erwachsenen, die junge Soldaten an die Front schickten, die von dort nicht mehr wiederkamen.“

Der Erste Weltkrieg, der weltweit 17 Millionen Menschen das Leben kostete, ist mit Tinte feinsäuberlich in die Hefte notiert. In Schaubildern gemalt sind Linien für die Schützengräben. Und dann sagt Geiseler den Satz, den er auch an die Tafel geschrieben hat als Überschrift über diesen Lehrstoff im Jahre 2014. „Ihr seid die Generation, die die 100-jährigen Gedenktage erleben wird.“
Er meint den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren, das entsprechende Jubiläum zum Ende des Kaiserreiches, zur Gründung der Weimarer Republik als erste deutsche Demokratie, der Machtergreifung der NSDAP, des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges bis hin zur deutschen Teilung. „Wenn ich schon nicht mehr da bin, erlebt ihr all diese Jahrestage. Denkt dann mal an mich“, sagt Geiseler.

Der 48-Jährige nimmt ein Stück Kreide und malt auf die Tafel, was Millionen Soldaten vor hundert Jahren tagtäglich erlebten und nicht überlebten: „Stellungskrieg, Grabenkrieg. Der Graben als Symbol für diese Form des Krieges“, sagt der Pädagoge. „Habt Ihr schon mal Stacheldraht angefasst? Es reicht schon, ihn anzusehen und es tut weh. Durch Stacheldraht mussten die Soldaten unter dem Trommelfeuer von Maschinengewehren, wenn sie den gegnerischen Graben nehmen wollten. Maschinengewehre, das war die neue Waffe, die 200 Schuss hintereinander abfeuern konnte, bis sie Ladehemmung bekam. In dieses Feuer mussten die Angreifenden laufen.“

Geiseler erzählt, wie ein solcher Stellungskrieg ablief mit schwerem Artilleriefeuer auf die Gegner, bis die sich kaum noch rühren konnten. Dann das Losstürmen der Soldaten, um den Graben zu nehmen: „17- bis 20-jährige arme Kerle.“ Sobald ein Graben erreicht worden sei, hätte der Gegner Verstärkung geschickt, die die Jäger zu den Gejagten machten. „Die frischen Kräfte nahmen die Gräben wieder ein, weil die Angreifer inzwischen zu schwach für deren Verteidigung waren. Die versuchten, sich nun in die eigenen Gräben zurück zu retten. „Drei Mal am Tag ging es so hin und her, ein irres Spiel, wenn man abends wieder dort angekommen ist, wo man am Morgen war. Ein völliger Irrsinn über vier Jahre hinweg. Von der Landschaft war nichts mehr übrig. Kein Baum, kein Strauch stand mehr. Wenn Bauern dort heute pflügen, finden sie noch immer Kleidung und Leichenteile der Toten vom Ersten Weltkrieg.“ Und dann spielt der Lehrer, der vor wenigen Jahren vom Landesbildungsministerium zu einem der besten im Land gekürt wurde und betont, dass seine Kollegen das genauso gut machten, dann spielt Udo Geiseler den Anti-Kriegssong „Es ist an der Zeit“ von Hannes Wader auf Youtube: „Auf deinem Kreuz finde ich, toter Soldat, Deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl neunzehnhundertundsechzehn gemalt. Und Du warst nicht einmal neunzehn Jahre alt.“

17 junge Mädchen und ein junger Mann hören das Lied, sehen die Fotos von den im Schlamm liegenden Leichen. Der einzige Schüler ist Riccardo Schramm. Der 17-jährige Rathenower blickt auf die Bilder, hört das an einen toten Soldaten gerichtete Lied. Und sagt: „Es ist für mich unvorstellbar. Krieg. Und so viele Tote. Und dass jemand sagt, dass man da hingehen muss.“

Von Marion von Imhoff

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