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Autorin berichtet von ihrem Trauma
MAZ vom 13.05.2016
Mit sechs Jahren wurde Lilly Lindner wiederholt vergewaltigt, erkrankte mit 13 an Magersucht und suchte mit 21 in einem Bordell Zuflucht und Geborgenheit. Nun erzählte die Autorin Rathenower Schülern im Jahn-Gymnasium von ihrem Leben. Ihre Schilderungen haben die Jugendlichen sichtlich mitgenommen.
Rathenow. Die 1985 in Berlin geborene Lilly Lindner begann schon mit 15 Jahren autobiografische Texte zu schreiben. 2011 schrieb sie ihre Autobiografie „Splitterfasernackt“. Drei Jahre später folgte mit „Winterwassertief“ der zweite Teil. In diesen Büchern verarbeitet Lindner ihre Kindheit und Jugend. Mit starken Worten und Bildern macht sie auf das Schicksal vieler ihrer Leidensgenossinnen, die unter fehlender Liebe, Selbstzweifeln und Selbstaufgabe leiden, aufmerksam.
„Im Rahmen des Weltbuchtages erhielt die Specht-Buchhandlung in Rathenow eine Lesung mit Lilly Lindner und bot sie unserer Schule an“, erzählt Ute Arndt, Deutsch-Lehrerin am Jahn-Gymnasium. Am Donnerstagnachmittag war es nun soweit. Auf Grund der eindringlichen Schilderung der Thematik hatten die Lehrer ihre Schüler des 11. Jahrgangs im Vorfeld über das Thema informiert und es ihnen freigestellt an der Lesung teilzunehmen. Die Sitzreihen im Theaterkeller waren am Donnerstag mit vier Klassen gefüllt.
Zerbrechliches Äußeres trifft auf Sprachgewalt
Die Lesung aus ihrem Debütroman „Splitterfasernackt“ gestaltete Lilly Linder dabei nicht wie üblich am Tisch sitzend. Am Mikrofon stand eine jünger wirkende Frau. Sie war sehr schlank, mit langen Zöpfen und von ihren Zuhörern kaum zu unterscheiden. Ihre zarte Stimme, mit der sie ihren zurückhaltend gestalteten freien Vortrag hielt, verstärkte den Eindruck ihrer Zerbrechlichkeit.
Die sprachgewaltigen Worte standen im Widerspruch zum Erscheinungsbild, schilderten aber umso emotionaler die Geschichte ihrer gestohlenen Kindheit. Und auch die der drei ebenso betroffenen jungen Frauen in der ersten Reihe, die Lindner immer wieder zu Lesungen begleiten. Die Autorin unterbrach ihren Vortrag mehrfach durch mit Musik begleitete Performances. Im Raum verteilte sie selbst gemalte Bilder, Notizen und Briefe, die sie geschrieben und erhalten hatte, um ihre Gefühle auszudrücken. Es gab zudem schauspielerische Elemente.
Schüler konnten Tränen nicht zurückhalten
Die einstündige Lesung war für alle Anwesenden sehr berührend und emotional. Zum Schluss stellten nicht die Zuhörer Fragen, sondern Lilly Lindner fragte die Schüler, wer schon einmal Gewalt gegen sich oder ähnliche Schmerzen erfahren musste. Mehrere Schülerinnen und Schüler standen auf. Schon während der Lesung konnten Einzelne ihre Tränen nicht zurückhalten. Auch nach der Lesung standen einige Jugendliche beieinander und nahmen sich in den Arm. „Es war eine außergewöhnliche und sehr berührende Lesung“, waren sich Anika Piesche und Anja Kegel einig. Beide kennen Mädchen, die sich schon selbst verletzt und geritzt haben. „In diesem Maße habe ich Schmerz noch nicht erfahren, aber man konnte die Schilderungen nachvollziehen“, sagte Kegel.
In den vergangenen Jahren hielt Lilly Lindner rund 500 Lesungen an Berliner Schulen. „Ich möchte den Schülerinnen, die ähnliches erlebt haben, eine Stimme geben. Sie sollen begreifen, dass man daran auch wachsen kann. Ich wünsche mir, dass sie nicht die gleichen Fehler wie ich machen und nicht erst daran zerbrechen.“ Lindner selbst ist an der Zerreißprobe der öffentlichen Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit gewachsen. „Bevor ich falle, halte ich mich an der Zeit fest, die ich habe.“ Mit diesen Worten beendete Lilly Lindner ihre Lesung. „Bevor ich falle“ heißt auch ihr zweiter Roman. Mit „Die Autobiografie der Zeit“ erschien am 2. Mai Lindners fünfter Roman.
Von Uwe Hoffmann
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